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Darf ich bitten? - New CD
Dienstag, 23. Feb 2010
Dichterworte und Musik im Kopf
Wenn Francis Picabia meint, unser Kopf sei deswegen rund, damit unser Denken die Richtung wechseln kann, dann kreist mein Denken um diesen Gedanken weiter und ich stelle mir die Frage: Wie schnell sind sie denn? Meine Gedanken,unsere, heute? Was ist der Beitrag der Zeit, in der wir leben, wie wirkt sie sich auf die paar Zentimeter Durchmesser der kleinen „Rennkugel" unserer Gedanken aus? Schnell, noch schneller, accelerando, stretta? Oder bedeutet sie etwa Müßiggang? Wie verschieden sind die Gedankenkreise eines Menschen im Verhältnis zu seiner Entstehung und dem Jetzt, wie verschieden sind unsere von denen unserer Ahnen, wenn wir auf die vergangenen beiden Jahrhunderte zurückblicken?
Die allgemeine Erschütterung der kleinen „Rennbahnen", die mit der allgemeinen Geschwindigkeit der Gesellschaft und ihren täglichen kleinen Erdbeben an Reizüberflutung gekoppelt zu sein scheint, lässt meine Gedanken immer öfter um eine Idee kreisen: Wie widersetzt sich ein Künstler dem allgemeinen Temporausch und der daraus resultierenden Beschränktheit der Sinne, die unsere Zeit zu beherrschen scheinen? Er versucht im Geiste ein Ritardando zu schaffen, bis er die Fähigkeit wiedergewinnt, weiche Knie zu kommen, Tränen der Rührung zu spüren vor einer Landschaft eines holländischen oder eines französischen Malers, vor einem chinesischen Aquarell, vor einem kleinem Portrait eines italienischen Meisters, beim Anblick einer getrockneten Blume im Herbarium, beim Lesen von Gedichten eines arabischen, russischen, deutschen Poeten, beim Musikhören, beim Anblick der Akropolis, Petras oder eines Felsens einer kleinen kroatischen Insel, von dem aus man nur noch ins weite Blau schauen kann, Grillen zirpen hört und den Rosmarin riecht ...Schon werden die Spuren, die die kreisenden Gedanken hinterlassen, bunter, es tun sich wie von selbst neue Bahnen auf, führen uns neue Verknüpfungen vor Augen.
Haben Sie sich jemals gefragt, was Beethoven beim Lesen von Goethe gespürt haben muss? Was Goethe empfand beim Hören von Beethovens Musik? Warum ausgerechnet Schumann E.T.A. Hoffmann vertonen musste? Warum Granados „Goyescas" komponierte, Liszt Sonette von Petrarca vertonte, Brahms in seiner Musik Morgenstern zitierte, warum sich Rimski-Korsakow von den Geschichten der „1001 Nacht" zu seiner „Scheherazade" inspirieren ließ?
Um die Musik auf meiner CD habe ich ein Netz aus Dichterworten gespannt - Worte von Goethe, E.T.A. Hoffmann, Mickiewicz und Tolstoi.
Eine der frühen Sonaten Ludwig van Beethovens,sein Opus 10 Nr. 3, sprudelt vor Witz Elan, Spott, steckt voller Überraschungen. Trotzdem wird der Zuhörer mit dem langsamen Satz in eine diametral entgegengesetzte Stimmung versetzt - Beethoven erzählte seinem Biographen, dass ihn Klärchens Tod aus Goethes „Egmont" zu diesem Satz inspiriert hatte. Largo e mesto - breit und traurig. In jenen Tagen musste Beethoven den Tod seiner Mutter bewältigen.
Johannes Brahms komponiert, als seine Mutter stirbt, das Horntrio op. 40, und er bezeichnet den langsamen Satz mit „mesto". (Er wird das nur noch ein weiteres Mal in seinem breit gefächerten OEuvre tun.) Er übernimmt nach eigenen Worten auch Form, Taktanzahl und Aufbau des Beethoven-Satzes. Dort, wo Brahms im darauf folgenden Satz seines Trios die Stimmung mit einem Jagdhornmotiv wieder hebt, bringt auch Beethoven wieder das Licht zurück mit einem Menuett und Trio, die an Schneewittchen und die sieben Zwerge erinnern könnten, aber auch mit dem Finale, das voller Kraft ist, das jedoch die Sonate - die umfangreichste,die Beethoven bis dahin komponierte- langsam ausblendend beschließt.
Kapellmeister Kreisler, die bunte Persönlichkeit aus E.T.A. Hoffmanns „Lebensansichten des Katers Murr", hat Robert Schumann zu seiner „Kreisleriana" inspiriert. Das Werk entstand in nur wenigen Tagen, während die Geliebte, Clara Wieck, auf einer Konzertreise unterwegs war. Schumann ließ Clara das Werk zukommen, sie fand es „abstoßend wirr". Der verletzte Schumann widmete es daraufhin seinem Freund Chopin. In der Person des Kapellmeisters findet der Leser (auch der Zuhörer) einen leidenschaftlichen Mann, der für die Liebe lebt und für sie sterben könnte, einen Träumer, der ihretwegen leidet und wiederum aufblüht. Die Stimmungswechsel - das Poetische, Leidende, Warmherzige, das Gleichgewicht Verlierende, Von-einem-Extrem-zum-anderen-Hüpfende - kann uns fast auf den Gedanken bringen, die „Kreisleriana" wären Selbstbildnisse Schumanns. Wie nur seine „Rennbahn" ausgesehen hätte? Schumann hielt „Kreisleriana" für eines seiner besten Klavierwerke, für eines, das „zu denken gebe".
Frédéric Chopin, der Schumanns Musik nicht besonders mochte, widmete dem Kollegen als höfliches „Dankeschön" für die „Kreisleriana"(die er sich übrigens erst nach Monaten angeschaut hat) seine vierte Ballade und teilte ihm mit, dass er zu seinen Balladen durch Gedichte von Mickiewicz angeregt worden sei. Adam Mickiewicz war der bedeutendste polnische Dichter der Romantik. In der dritten Ballade geht es um die Wasserwelt - um Undine, bezaubernde Sirenenstimmen, um den Dialog der Liebenden, um Heldentum. Hier mögen sich auch andere Kreise schließen. Auf einer Reise nach Italien traf Mickiewicz mit Goethe zusammen - dieser wieder lässt in der Faust-Szene „Im Studierzimmer" die „Undine" als Symbol des Wassers auftauchen., Undine - im slawischen Raum „Rusálka" -war auch das Thema des gleichnamigen Puschkin-Werkes. Serge Prokofieff, der sich sein Leben lang mit Literatur auseinandersetzte, komponierte nicht nur Musik zu „Eugen Onegin" und „Pique Dame", sondern auch einen „Puschkin-Walzer". Auf dieser CD findet sich aber ein anderer Walzer, einer aus der Oper „Krieg und Frieden" nach Leo Tolstoi. Inmitten von Angst, Spannung, Flucht und Eindrücken aus fernen Gebieten der Sowjetunion (die Künstler wurden während des Zweiten Weltkriegs weggebracht, weit weg von Moskau), keimte bereits im Sommer 1941 der Plan zu diesem Werk. Damals kam mir der Gedanke, eine Oper nach Leo Tolstois „Krieg und Frieden" zu schreiben. Die Kapitel des Romans, die vom Kampf des russischen Volkes gegen Napoleons Horden im Jahre 1812 berichten, gewannen für uns unter diesen Umständen irgendwie an Größe und Vertrautheit.Im Kaukasus arbeitete ich an den ersten sechs Szenen, die das friedliche Leben der Hauptpersonen darstellen, mit ihrem Lächeln,ihren Tränen, ihren Hoffnungen, ihren Enttäuschungen und ihrem Streben. An den Hörer ergeht die Einladung, sich eigene Bilder auszumalen, auf der eigenen" Gedankenrennbahn" Verknüpfungen zu erforschen, aufzunehmen, zu erleben, stehenzubleiben, die Komponisten und Dichter auf die Reise mitzunehmen, mit Kutsche oder Space Shuttle - jeder wie er mag. Darf ich bitten?
Anika Vavić
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